VGH Kassel zur Shisha-Bar im Wohngebiet: Freiwillige Rücksichtnahme ersetzt keine belastbare Baugenehmigung

Beschluss des VGH Kassel vom 28.10.2024 – 4 B 1729/24 (BeckRS 2024, 35540)

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH Kassel) hat mit Beschluss vom 28. Oktober 2024 eine Entscheidung mit erheblicher Relevanz für Projektentwickler, Bauherren, Kommunen und Genehmigungsbehörden getroffen. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob eine Shisha-Bar in einem allgemeinen Wohngebiet zulässig ist und wie das baurechtliche Rücksichtnahmegebot konkret zu berücksichtigen ist.

Im Rahmen der Entscheidung nutzte der VGH Kassel die Gelegenheit, um auf folgendes hinzuweisen:

"Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Baugenehmigung kommt es allein auf deren Inhalt an. Auf eventuell zukünftig freiwillig erfolgende Rücksichtnahmen des Bauherrn auf die Nachbarschaft kommt es rechtlich nicht an." (Ls. Nr. 4)

Dies entspricht der ganz einhelligen, bundesweiten Rechtsprechung der (Ober-)Verwaltungsgerichte. Eine Genehmigung muss bereits in sich alle für den Nachbarschutz relevanten Vorgaben enthalten. Mündliche Absprachen, Betriebskonzepte ohne Verbindlichkeit oder gut gemeinte Vorsichtsmaßnahmen helfen nicht weiter, wenn es zum Streit kommt. 

Gleichwohl dies für erfahrene Fachleute keine Neuigkeiten sein dürfte, erinnert die Entscheidung eindrücklich daran, vermeintliche Selbstverständlichkeiten konsequent im Genehmigungsverfahren abzusichern und nicht der nachträglichen Betriebspraxis zu überlassen.


Hintergrund des Falls

Ein Bauherr erhielt im Januar 2024 eine Baugenehmigung zur Umnutzung eines ehemaligen Ladengeschäfts in eine Shisha-Bar in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet. Die geplante Nutzung sah Öffnungszeiten bis 1:00 Uhr wochentags und bis 3:00 Uhr am Wochenende vor. Es gab keine konkreten Auflagen in der Baugenehmigung hinsichtlich Schallschutz, Lüftung oder der Betriebszeiten.

Ein Nachbar erhob Widerspruch und begehrte Eilrechtsschutz beim Verwaltungsgericht Darmstadt. Dieses gab dem Antrag statt und ordnete die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs an. Gegen diese Entscheidung legte der Bauherr Beschwerde ein, unterlag jedoch vor dem VGH Kassel.

Die wesentlichen Aussagen des VGH Kassel

1. Keine Vollziehung rechtswidriger Baugenehmigungen mit Drittwirkung

Verletzt eine Baugenehmigung drittschützende Rechte, kann generell kein schützenswertes Interesse an der sofortigen Vollziehung dieser Baugenehmigung bestehen. Das Vollziehungsinteresse des Bauherrn tritt in diesen Fällen hinter das Schutzinteresse des betroffenen Nachbarn zurück. 

2. Pflicht zur Konfliktvermeidung ist Aufgabe der Behörde

Die Bauaufsichtsbehörde muss bereits im Genehmigungsverfahren zu erwartende Nutzungskonflikte erkennen und diesen durch geeignete Mittel begegnen. Dazu gehören insbesondere:

  • die Einholung von Lärmprognosen,
  • schalltechnische Gutachten,
  • konkrete Nebenbestimmungen, bspw. hinsichtlich der Betriebszeiten, der Musiklautstärke, Regelungen zu Lüftung und Türöffnungen etc.

Diese Anforderungen gelten auch im vereinfachten Genehmigungsverfahren gemäß § 65 HBO. Das Rücksichtnahmegebot bleibt auch hier zentraler Prüfungsgegenstand.

3. Entscheidend ist allein der Genehmigungsinhalt

Hier liegt die wohl wichtigste Klarstellung der Entscheidung des VGH Kassel: Maßstab für die Beurteilung, ob das Vorhaben rücksichtslos ist oder nicht ist alleine der Inhalt der Baugenehmigung. Spätere freiwillige Einschränkungen des Bauherrn – sei es durch Rücksprache mit Nachbarn oder durch interne Betriebspolitik – sind rechtlich nicht von Belang.

Das bedeutet für die Praxis: Eine Shisha-Bar, die zwar genehmigt wurde, aber ohne jede rechtlich verbindliche Auflage hinsichtlich Lärmschutz oder Emissionen bleibt, ist potenziell rücksichtslos – selbst wenn der Betreiber tatsächlich lärmreduzierend agieren will.

4. Einzelfallbetrachtung: Wohngebiet bedeutet erhöhte Schutzanforderung

In einem allgemeinen Wohngebiet gelten schärfere Anforderungen an die Rücksichtnahme. Die planungsrechtlich zulässige Nutzung muss sich am Ruhebedürfnis der Bewohner orientieren. Nachtöffnungszeiten, Musikbetrieb, Lüftungsanlagen mit Geruchsemissionen und ähnliche potenziell störende Betriebsmerkmale sind daher möglichst genau zu prüfen.

5. Auswirkungen für die Praxis

Die Entscheidung des VGH Kassel verdeutlicht, dass bei Bauvorhaben mit möglichem Nutzungskonflikt – insbesondere bei gewerblichen Nutzungen in allgemeinen Wohngebieten – bereits im Genehmigungsverfahren größtmögliche Sorgfalt geboten ist.

Entsprechende Vorhaben sollten frühzeitig auf ihre planungsrechtliche Zulässigkeit hin überprüft und durch geeignete lärm- oder emissionsschutztechnische Gutachten unterfüttert werden. Genehmigungsbehörden dürfen sich nicht auf freiwillige Rücksichtnahmen des Bauherrn verlassen, sondern müssen verbindliche Auflagen zur Konfliktvermeidung in die Baugenehmigung integrieren. Dies gilt auch im vereinfachten Genehmigungsverfahren. Eine klare Dokumentation der lärmschutzrechtlichen Abwägung ist dabei ebenso erforderlich wie eine belastbare rechtliche Beurteilung der Gebietsverträglichkeit. Die Entscheidung unterstreicht somit die Notwendigkeit transparenter und belastbarer Verwaltungsentscheidungen sowie einer vorausschauenden Projektplanung im Hinblick auf das baurechtliche Rücksichtnahmegebot.

Heißt zusammengefasst:

  • Berücksichtigen des Rücksichtnahmegebots auch im vereinfachten Verfahren.
  • Kein Verzicht auf Gutachten oder detaillierte Nebenbestimmungen bei Vorhaben mit Konfliktpotenzial.
  • Dokumentation der Lärmschutzprüfung in der Begründung der Genehmigung, um diese im Konfliktfall verteidigen zu können.

Praxistipp

Die Planung eines jeden Vorhabens muss vorausschauend erfolgen. Die Entscheidung belegt, dass sich Bauherren hierbei nicht alleine auf die Bauaufsichtsbehörden verlassen sollten. Gerade Nutzungen mit erhöhtem Konfliktpotenzial wie etwa Shisha-Bars, Gastronomie, Eventlokale, noch dazu in (Allgemeinen) Wohngebieten erfordern sowohl vom Bauherrn als auch der Behörde besondere Sorgfalt. Es reicht aus Sicht des Bauherrn zudem nicht aus, gute Absichten zu haben oder freiwillige Rücksichtnahmen zu versprechen. Der Schutz der Nachbarschaft muss durch klare, rechtlich verbindliche Auflagen in der Baugenehmigung gesichert sein.

Bei der Abfassung von Bauanträgen und Betriebsbeschreibungen sollte frühzeitig die Einbindung juristischer und technischer Expertise erwogen werden, um teure Verzögerungen oder gar Untersagungen zu vermeiden.

Sie haben Fragen zur Genehmigungsfähigkeit eines Vorhabens oder möchten ein kritisches Projekt rechtssicher aufstellen? Wir beraten Sie gerne.

Transparenzhinweis: FPS führte das Verfahren auf Antragstellerseite.

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